Der Sensation Seeker

Der Sensation Seeker

Autor | Quelle

Bruno Roeder

 

Thema

Digitalisierung und Verhaltensforschung

Tägliche Jagd nach dem Reiz!

Was tun, wenn Sensation Seeker im Netz auf keine „normalen“ Ads, Storytellings und Contents mehr reagieren, da ihnen diese zu langweilig und zu wenig „spannend“ erscheinen? Ist dieses Phänomen auf dem Weg in die Digitalisierung oder auf dem schmalen Grat zwischen Innovation, Mut und Wissen über die kognitive Informationsverarbeitung im Zeitalter der Digitalisierung nicht unbedingt zu beachten?

 

“Hallo, Anina Wullschläger, am Apparat” – ihre Stimme am Telefon klingt wie ein ungebügelter Schlafanzug: zerknittert, müde, gelangweilt.

 

Der Anrufer, ein geborener Verkäufer und Enthusiast, der seine davor schon gewonnenen „grandiosen Leads“ schon feierte lässt sich davon nicht beirren:

 

Eine Werbung mit wichtigem Inhalt, haben wir geschaltet… „Ist das nicht herrlich, liebe Frau, ein Geschenk für Sie gar, eine Bereicherung im Dschungel der vielen Optionen, welche Sie im Netz finden?“

 

„An keine Ad kann ich mich erinnern. Wie und warum auch? Ich lösche fast alles sofort, klicke es weg, damit ich meinem eigentlichen Vorhaben im Netz widmen kann. Nein, Herr Anrufer, an Ihren komischen Newsticker, Ad, LinkedIn Nachricht oder was auch immer erinnere ich mich schon gar überhaupt nicht, denn fremde Newsletter langweilen mich noch mehr als irgendwelche Banner, welche mir ständig über den Bildschirm laufen!

 

Anina Wullschläger, dies gilt es zu wissen, liest nämlich nur dann und schaut nur dann mit aufgeregten Äuglein irgendwo hin, wenn ihr Erregungsniveau bereits genügend aufgepeitscht ist. Schon nach dem Aufstehen in Herrgottsfrühe geht sie auf Jagd nach den ersten Sinneseindrücken: iPhone, iPad, Radio, Facebook, LinkedIn, Mails, Chats, Television – Wow! Es ist noch nicht 8 Uhr und die gute Dame hat schon eine Überdosis Sinnesreize intus.

 

Übel gelaunt und frustriert von der Miesepetrigkeit dieser saturierten Welt, betritt sie dann ihr Büro und öffnet ihre übervolle Agenda auf ihrem DELL: Meeting, Meeting, Meeting, Meeting – Mittag – langes Meeting – Feierabend. Dann löscht sie rasant fast alle ihrer verfluchten Eingangs-Mails, ausser jedoch es taucht eines in tizianrot auf oder eines ohne rechtem Inhalt aber als nervöses Bewegtbild, ein hektisches Bildsammelsurium in short-time-Schnittintervallen, – das macht sie an; und später hockt sie dann – bewaffnet mit iPhone, iPad und drei privaten Smartphones in zähen Meetings. In diesen geht es um Programmatic Buying, Microtrageting, Influencermarketing und um eine dicke Ladung Content für die neu eingekauften Consumer-Adressen, die irgendwie ihren „Zielgruppen“ entsprechen sollten. Das langweilt Frau Wullschläger jeden Tag mehr, das frustriert sie aufs Blut, doch die Rettung bis zum ersehnten „Nachhaltigem Essen“ zu Mittag sind ihre mobilen „Grätli“ (Geräte) auf denen es im Minutentakt vibriert, halbstumm surrt, blinkt, schnarrt, aufpoppt; ihre „Grätli“ mit den neuesten, knallbunten Emojis umklammert sie eisern, ihre „Grätli“ mit tiefdunklen News über das systematische Absaufen vieler Marken ohne jeglichen US- und UAP.

 

Reizüberflutung

 

Anina Wullschläger ist ein Sensation Seeker! Eine „Online-Identität“, das nach Reizen jagt. Sie sucht mit einem „geringen initialen Erregungsniveau eher aufregende Reize“. Sie sucht in ihrem analog-digitalen Leben ständig neue Reize, um „den gewünschten Pegel ihrer Stimulierung halten zu können“. Sie rangiert auf der sogenannten „Sensation Seeking Scale“ auf dem NISS-Rang, der bereits als „leicht pathologische Reizsucht“ bezeichnet werden darf.

 

Ihr kontinuierliches „Thrill Seeking“ übersetzt sie in ihr privates und berufliches Leben mit Vollgas: Lebensgefährliche Sprünge aus Sportflugzeugen, Tiefseetauchen an den allertiefsten Stellen des pazifischen Ozeans, fünf Mal Urlaub im Jahr, 24-Stunden-Trips um die Erdkugel nach Tokio, Shoppingexzesse in Dubai und Muscat.

 

12 – 21Jährige, die zu einem Youtube- oder TikTok Rock auf den Tischen in ihren Klassenzimmern grölen. „Geil“ sei dieses Video, „geile Pics“ und „geile Musik“: 26‘000 Kids haben es bereits angesehen, drei haben es geliked. Immerhin.

 

Frau Wullschläger hörte den Begriff Sensation Seeking leider noch nie. Hätte sie jemals den Begriff Sensation Seeking wirklich auf den unzähligen „MarketingBAMMS“ studieren und hören können, dann wüsste sie über seinen Begründer, Marvin Zuckerman, bescheid. Ein grossartiger Forscher, ein US-Amerikaner, der klug handelnden Konzernen und Firmen zu Milliarden Umsätzen verholfen hat. Marvin Zuckerman, der sich mit dem Menschen beschäftigt, seinen Persönlichkeitsmerkmalen, der das tat, was viele Marketingleute tun müssten: den Konsumenten in den Mittelpunkt ihres Handelns stellen und nicht Trends, Hypes oder technologische Machbarkeiten für Leute, die Unternehmen zwar als „Zielgruppe“ bezeichnen, sie aber gar nicht aus ihrem veränderten Verhalten heraus kennen.

 

Was das Credo, das markenrelvante Ergebnis von Zuckerman also, für echte Markenexperten ist?

 

Der Mensch sucht immer nach Sinneseindrücken. Er läuft ihnen auch hinterher. Die Digitalisierung schuf und schafft ein Katapult von Reizen, die sich mit den Reizen der analogen Welt (andere Reizstrukturen) mischen, kreuzen. Marken sollten physiologische Sinneseindrücke vermitteln. Doch Achtung: dadurch, dass wir ständig Reizen ausgesetzt sind, sollte die Marke jetzt gerade nicht schnell, rasant, bunt, grell dem Konsumenten begegnen, sondern ihn, dem ausgefeimten Sensation Seeker, in seinem Urgefühl (Archaik) treffen: übrigens, genau deshalb funktionieren Katzenvideos so gut, sie sind „unaufgeregt, ruhig, erzeugen Beschützerinstinkte, wecken Geborgenheitsgefühle und Kindheitserinnerungen (Urgefühle)“ (vgl. P. Hammelstein, ein Schüler Zuckermans).

 

Die Umkehrung der Thrill-Strategie tut also den Marken gut und die könnte in der Digitalkommunikation so aussehen: Zunächst Grundhaltung und Stimmung hunderttausender Online-Identitäten im Netz erspüren, er-horchen (Identity Listening). Sie, die Konsumenten, dann mit Bild und Text, in welchen Markenbotschaften sanft eingewoben sind, in ihren Urgefühlen berühren. Das Ergebnis, von Zuckerman, Hammelstein oder R.H. Hoyle bewiesen, ist purer, erlesener Markenerfolg: Der Sensation Seeker, reizüberdrüssig, wendet sich – ernst genommen in seiner unterschiedlichen Stimmung – der Marke zu, nimmt sie leichtfüssig wahr, beginnt sich für sie zu interessieren und ist geneigt sie zu kaufen.

 

Falls diese Wissensvermittlung Ihr persönliches „Sensation Seeking“ gestillt hat und Sie nun mit uns gemeinsam über den digitalen Tellerrand schauen möchten, dann senden Sie uns doch gerne eine Nachricht…

 

Frau in Digitalwelt